Nuancierte Positionen ade: Den Untergang der Debattenkultur live miterlebt

Ich hatte mich damals aus den CoVid-Debatten (auch um die Impfpflicht) herausgehalten, aber stets alle Impfungen usw. brav mitgemacht. Nun halte mich auch aus der menschlichen Katastrophe des russischen Krieges in der Ukraine heraus, während ich gleichzeitig vollkommen auf der Seite der Ukrainer stehe und es einfach nur grauenhaft, gruselig, unvorstellbar finde, was da abläuft und wie es dazu kommen konnte. Aber ich halte mich in meinen Aussagen und Meinungen zu den Themen stets zurück, weil ich diese Problematiken für hochkomplex erachte.

Bei der Corona-Pandemie war jeder zweite Depp ein selbstrecherchierter Virologe, Immunologe und studierter Historiker mit Schwerpunkt auf Gesundheitskrisen wie BSE, Spanische Grippe und mehr. Und tat seine Meinung kund. Wie man das halt so macht, in den (a)sozialen Medien. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Ich habe nie viel Biologie gemacht, habe gerade so geglaubt die Statistiken, die wie wahnsinnig um einen herumgeworfen wurden, zu verstehen. Ich habe fleißig wissenschaftliche Videos geschaut und doch tat ich mich schwer, alle Maßnahmen wirklich zu kritisieren. Deswegen wurde ich dann auch gerne mal als Mitläufer beschimpft, wenn ich es bei einigen „Querdenkern“ gewagt habe, zu sagen, dass ich generell Impfungen gut finde. Und umgedreht wurde ich als „Schwurbler“ bezeichnet, wenn ich einen Impfzwang nicht mit offenen Armen empfangen habe.

 

Das gleiche Spiel geht scheinbar nun mit den Kriegsdebatten weiter. Wie viele studierte Slawistiker, Generalfeldmarschalle, Politologen mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Menschenrechtler tauchen nun plötzlich auf und tun ihre Meinung kund, obwohl sie niemand danach gefragt hat. Ich war stets Pro-Ukraine, habe stets mein Mitgefühl ausgedrückt, aber ich habe nie lauthals nach einer bestimmten notwendigen Maßnahme gerufen, da ich es mir persönlich nicht zutraue, das richtige zu rufen. Mehr Waffen? Ja, aber, was, wenn das nicht ausreicht? Diplomatie? Ja, aber ist das nicht heuchlerisch und dem Terror recht geben? NATO-Einsatz ergo Atomkrieg?! Gebiete aufgeben ergo bald auch Baltikum weg? Irgendwie tue ich mich da schwer, eine klare Meinung zu diesen Maßnahmen zu haben.

 

Gleichzeitig finde ich es umso dramatischer, dass sich einige bei all diesen riesigen Problemen, welche globale Krisen darstellen, welche ganz offensichtlich keine einfache Lösung haben (ansonsten hätten wir sie ja schon oder zumindest hätten wir sie besprochen), es Menschen gibt, die sich so selbstbewusst und unhinterfragt hinstellen: „Ja, ich habe die Lösung! Das Problem ist ganz eindeutig, die Lösung umso eindeutiger. Es gibt keine Nuancen. Es ist kein Dilemma. Es ist evident. Dieses und jenes muss gemacht werden, sonst Gnade uns Gott.“ Wäre eine solche Selbstüberschätzung bereits bei Menschen, deren Meinung mich eigentlich recht wenig kümmert, nicht schlimm genug, sind es sogar viele gewählte Politiker in Parlamenten, die so reden – und die sind dann noch dreister.

 

Dreister, weil sie nicht nur glauben, der Heiland in Ihrer Person gefunden und die Heilsversprechen Ihrer Partei als einzige wahre Lösung eines Problems gefunden zu haben, sondern gleichzeitig jeden einzelnen diffamieren, der es auch nur wagt, Zweifel zu äußern, nachzufragen, oder tatsächlich gar nichts sagt. Wer nichts sagt, ist Teil des Komplotts dagegen.

 

Ich glaube, daran ist natürlich auch das Internet nicht unschuldig und wie wir uns miteinander unterhalten. Es gibt da einige sehr interessante Bücher dazu, aber dieses fast schon Bipartisanale und Alternativlose ist aus den USA hinreichend bekannt. Man kann nicht Demokrat und gleichzeitig nicht für die freiesten Abtreibungsgesetze der Welt sein. Man kann nicht Republikaner und gleichzeitig gegen Waffenbesitz sein. Entweder ganz oder gar nicht. Und überhaupt muss man auch eines der beiden sein – keine politische Meinung haben oder (in den USA) die einer Drittpartei: Schwurbler, Querdenker, Idioten, Wahnsinnige, Systemsprenger und Anarchisten. Alles Wahnsinnige!

 

Die Debattenkultur geht dahin. Die Kritik geht dahin. Eine nuancierte Position ist von niemandem gewollt, gar äußerst unbeliebt. Könnte man den Krieg nicht auch eventuell mit diplomatischen Mitteln…? Hinaus!! Ketzer! Und wehe, ich höre das Wort Diplomatie noch einmal, dann schieße ich dir mit meinem brandneuen Leopard-Panzer die Rübe weg, du menschenverachtender und menschenrechtsmissbrauchender Hippie-Pazifist! Hier geht es um die Integrität eines Landes! Nicht um Menschenleben!

 

Ist ja gut. Ich wollte eigentlich auch, dass mal über die gefährliche Situation der stationierten US-Kräfte in den baltischen EU-Staaten gegenüber den patrouillierenden Russen auf der anderen Seite der Grenze geredet wird, über den Krieg um Bergkarabach, über die Annexion der Krim, die so hingenommen wurde, genauso wie die Annexionen, die es im Georgienkrieg 2008 gab. Und was ist eigentlich mit Israel/Palästina? Hat jeder von euch da schon seine unproblematische klare Sichtweise darauf, was da richtig und falsch ist? Ja? Gut? Okay, dachte ich mir, dass ich mal wieder der einzige bin, dem hier das politische Zeitgeschehen dann doch zu stark zu Kopf steigt.

 

Wo geht die Debattenkultur hin? Wo geht das Abwägen hin? Alles, was ich in Diskussionen um solch heikle Themen sehe, und das bei Menschen, die völlig unbeteiligt sind, ist emotionsgeladenes Streiten, genau nach seinem Wortsinn des starren Widerstrebens. Eine Kritik, so wie es Kant noch als eingängliche Untersuchung verstand und die griechische Philosophie es noch als κρίνειν krínein, also ein (Unter-)scheiden und Trennen von Sachverhalten kennt, findet nicht mehr statt. Es gibt nur noch Sodom und Gomorrha.

 

Natürlich bin ich bei weitem nicht der erste, dem dies auffällt. Ich renne hier offene Türen ein. Ich habe es aber nur zum ersten Mal am eigenen Leibe so heftig erfahren, wie es mir vorher nie bewusst war. Nuancierte Positionen will keiner haben. Da kritisiere ich einen Politiker, weil er das minimale Poster „Diplomacy NOW!“ einer Hand voll linker Aktivisten derart diffamiert und als revisionistisch und „penibel“ einstuft, indem ich darauf hinweise, dass dies demagogisch und militant sei, gar schon zynisch, da man (laut ihm) keine anderen Lösungsvorschläge als die seinigen auch nur teilweise in Betracht ziehen kann und schon – bin ich der Schwurbler aus der Ecke. Nicht, dass ich einen Lösungsvorschlag gemacht hätte, der besser als der seinige wäre. Nein, ich weiß es schlicht nicht. Nur halte ich es eben für übertrieben selbsterhoben, wie bereits erwähnt, wenn man sich seiner eigenen Position so derart sicher ist, dass man alles andere sofort diffamieren muss.

 

Ich empfehle an dieser Stelle das sehr interessante Interview von Barbara Bleisch mit Ivan Krastev aus der SRF Sendung „Sternstunde Philosophie“ (Der Krieg in der Ukraine und die Zukunft Europas, 22.01.2023, 62 min)[1]. Hier wird auch auf den Artikel Krastevs zurückgegriffen, indem erwähnt wird, dass Krieg neuerdings nicht mit Waffen auf dem Schlachtfeld, aber auch nicht mit klassischen Friedensverträgen beendet wird. Es sind Wahlen, die entscheiden, in welche Richtung sich die beteiligten Länder unweigerlich navigieren, aber auch die Wahlen außerhalb sind von Bedeutung, da sich neue Allianzen und Druckmittel ergeben können. „To win wars in the 21st century, it is not always enough to get the upper hand on the battlefield. You also need to win elections, and not in your own country alone.” (Krastev am 5. Januar 2023 in der Financial Times, „World elections will shape the outcome of the war in Ukraine”)[2]

 

All dies, nur um zu sagen: Bitte, liebe Politiker und liebe Hobby-Politiker, welche das Netz mit Halbwahrheiten fluten, sie aber energischst vertreten: Hört auf, einfache Lösungen herum zu posaunen und andere zu diffamieren. Merkels Worte hallen’s wider: Jeder ist für eine „gemeinsame Lösung“. Jeder will eine Lösung des Problems. Die allermeisten in Europa sind für die Ukraine, verabscheuen Russlands, Putins Vorgehen und treten für Menschenrechte ein. Aber niemand hat die Patentlösung parat, wie man weiteres Leid so schnell wie möglich verhindert und einen Frieden schafft, der hält. Niemand glaubt, dass Gebiete an Russland abgeben Ressentiments lösen wird. Aber alle Fragen rund um das Ende des Krieges sind nicht leicht zu beantworten: Ob Diplomatie komplett vergessen werden muss und nur Krieg auch Krieg bekämpfen kann? Ob es zu einer Eskalation kommt? … kommen sollte? Ob die NATO sich irgendwann einschalten muss? Ob eine nukleare Katastrophe noch realistisch erscheint?

 

Ach, ich hab’s ja schon wieder getan. Ich wollte wieder nuancieren. Ich Depp. Hier ist doch das Internet…

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